Leseprobe
Der Weg führte an der Außenseite des Fabrikzauns
entlang. Der Opo floss hier ruhiger. Die ungezähmte Kraft der Stromschnellen
weiter oben war hier der Resignation gewichen. Süßwasser traf
auf Salzwasser, und ohne Widerstand ergab sich der Fluss in den Fjord.
In einem der Häuser auf der anderen Seite putzte eine Frau die
Fenster. Endlich war es nicht mehr sinnlos, in Odda Fenster zu putzen.
Das Schmelzwerk war Ende April in Konkurs gegangen, und der Kohlestaub
legte sich nicht länger wie ein grauer Schleier über die Stadt.
Die Kräne standen reglos auf dem Kai. Die Seilbahn ruhte, und ihre
Wagen hingen hintereinander vom Hafen bis Nyland wie kleine Punkte in
der Luft. Man konnte denken, jemand habe sich in Odda angeschlichen,
den Zeigefinger an die Lippen gelegt und Psst! gemacht.
Wegen der Polizeiabsperrungen kamen wir nicht näher als hundert
Meter an die Mündung heran. An beiden Flussufern waren die Suchmannschaften
im Einsatz. Schlauchboote fuhren hin und her. In dem weißen Sonnenlicht
sah es fast so aus, als seien sie beim Angeln. Es war ein schöner
Tag auf dem Fjord, und sie wollten ihr Anglerglück versuchen.
Der Kerl taucht doch bestimmt wieder auf, sagte Martinsen. Eine Leiche
kommt immer nach oben, stimmts?
Da war ich mir nicht so sicher. Ich hatte von einem Mann gehört,
der in den Fluss gegangen und mit den Unterströmungen bis nach
Måge getrieben worden war, zehn Kilometer in den Fjord hinein.
Einen anderen fanden sie erst Monate später. Es war nur noch das
Skelett übrig.
Martinsen fotografierte vom Weg aus, sagte aber, er wolle einen anderen
Winkel probieren. Er warf sich eine Kamera über die Schulter und
kletterte auf die morsche Brücke. Das Tor war mit verrostetem Stacheldraht
umwickelt. Daran hing ein Schild: Hochspannung, Lebensgefahr. Ich fragte
mich, was hier genau die Lebensgefahr darstellte. Die größte
Gefahr bestand wohl darin, dass die Brücke einstürzen und
man in den Fluss fallen konnte. Das war allerdings überall und
jederzeit möglich. Der Boden konnte sich auftun, der Himmel konnte
einem auf den Kopf fallen.
Ich kletterte hinter Martinsen über das Tor. Auf dem Weg hinunter
verlor ich meine Sonnenbrille und riss mir am Stacheldraht die linke
Hand auf. Ich blieb stehen und starrte sie an. Erst kam kein Blut, obwohl
der Riss ziemlich tief gehen musste. Dann kam alles auf einmal. Das
war typisch. Martinsen hatte sich elegant darüber geschwungen.
Ich musste mir natürlich die Hand aufreißen.
Martinsen half mir, die Hand mit einem Taschentuch zu verbinden. Dann
zog er das Handy aus der Hemdtasche. Er lächelte, als er antwortete:
Du kannst selbst mit ihm sprechen. Ich nahm das Telefon in die rechte
Hand. Von der linken rann Blut. Es war die Chefin vom Dienst. Sie kriegen
dich immer, dachte ich. Du kannst dich wegducken und verstecken, am
Ende kriegen sie dich immer.
Ist es Mord?, fragte sie.
Es blutet zumindest, sagte ich.
Wie bitte?
Ich seufzte. Keine Leiche bis jetzt, sagte ich, nur viel Blut.
Blut? Hat die Polizei gesagt, ob es sich um Unfall oder Mord handelt?
Sie suchen und wir warten.
Ich versuche seit zwei Stunden, dich zu erreichen.
Ich antwortete nicht. Ich sah sie vor mir im Gebäude der Bergens
Tidende sitzen, wie sie in einem eleganten Kostüm lächelte.
Bei der Eröffnungsfeier des Neubaus hatte der Architekt gesagt,
die Glasfassaden sollten den Passanten die Gelegenheit geben, das hektische
Presseleben rund um die Uhr mitzukriegen. Ich hatte mit dem Champagner
in der Hand dagestanden und in mich hineingegrinst. In einer Zeitungsredaktion
passiert so gut wie nichts. Redakteure, Chefs vom Dienst und Journalisten
sitzen alle vor ihren Bildschirmen. Hin und wieder schauen sie auf die
Straße, sehen Leute vorübergehen, sehen Liebespaare, die sich
küssen, sehen Betrunkene, die an die Fassade pinkeln.
Bist du noch da?, fragte die Chefin vom Dienst.
Ich bin noch da, antwortete ich. Wo sollte ich sonst sein?
Warum gehst du nicht an dein Handy?
Ich hatte anderes zu tun.
Was denn zum Beispiel?
Zum Beispiel herausfinden, wie die Dinge zusammenhängen.
Sie beendete das Gespräch: Tu das. Wir versuchen doch, hier ein
gemeinsames Ding zu landen, oder?
Buchtipp |
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Von der Brücke aus hatten wir den Logenplatz bei der Suchaktion.
Wir hätten näher dran sein können, hätten aber keinen
besseren Überblick bekommen. Der Fluss war angeschwollen und voller
Dreck. Mir fiel plötzlich auf, dass ich seit meiner Kindheit nicht
mehr hier gewesen war. Ich hatte eigentlich geglaubt, in den Bretterbuden
am Ufer würden sich die Lachsfischer aufhalten, aber von ihnen
war keine Spur zu sehen. Der Pfad am Fluss war fast zugewachsen. Die
Gegend gehörte zu den besten in ganz Odda, war aber in all den
Jahren durch das Schmelzwerk verborgen gewesen. Auf der Westseite standen
die Container und das riesige Förderband. Auf der Ostseite befanden
sich die Kräne und der Importkai. Auf beiden Seiten waren hohe
Zäune mit Stacheldraht. Der Fluss war zu einer Lüge geworden,
der Fluss musste verborgen werden. Als wäre die Mündung eine
Idylle, die das Bild vom hässlichen, dreckigen Odda retuschieren
musste.
Ich saugte das Blut von meiner Hand und ging den Pfad zurück. Der
Sohn von Pedersen war wahrscheinlich irgendwann heute Nacht hier vorbeigetrieben.
Vielleicht war er weitergespült worden, unter die Brücke mit
dem Schild Lebensgefahr. Vielleicht war er schon tot gewesen, bevor
er im Opo landete. Vielleicht war er an den großen Felsen, die
aus dem Fluss ragten, zerdrückt worden. Ich sah einen weißen
Körper vor mir, der durch dunkles Wasser trieb, und all das, was
ihn festhielt, was an ihm zerrte. Und das Schmelzwasser, das seinen
Körper ein letztes Mal streichelte.
Danke an Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |