Leseprobe
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Der Getarsee ist nicht besonders groß. Von einem Aussichtspunkt, der
hoch genug liegt, kann man ihn ohne weiteres überblicken. Er ist zweieinhalb
Kilometer lang, und seine breiteste Stelle mißt dreihundert Meter. Er
liegt eingebettet in eine Felsspalte auf dem Hochplateau des Hanved, und Freizeitangler
wissen, daß das Flüßchen Kagghamra aus ihm entspringt, eines
der wenigen Gewässer, in denen sich noch Lachsforellen tummeln. Der Getarsee
ist ziemlich kalt, obwohl er flach ist, nirgends tiefer als drei Meter. Nur
an der südlichen Landzunge fällt das Ufer steil ab, bis auf fünfundzwanzig
Meter Wassertiefe.
Der Zufall wollte es, daß das Flugzeug genau dort abstürzte. Die
halbnackten Sonnenanbeter sahen es langsam versinken.
Kristina Vendel rannte zu ihrem Fiat Uno. Viele Leute waren unterwegs zu ihren
Autos. Eine Katastrophe ist immer eine Volksbelustigung, wenn auch von der brutalen
Sorte. Man spricht es nicht aus, aber man wird durch solche Ereignisse daran
erinnert, daß man noch unter den Lebenden weilt – eine Tatsache,
die man in der Lethargie des Alltags oft vergißt.
Eigentlich wußte sie nicht, was sie tun sollte. Es hatte keinen Sinn,
auf eigene Faust zur Unfallstelle
zu fahren. Was hätte sie dort ausrichten können? Sie fuhr statt dessen
zur Landebahn. Vielleicht hatte man dort noch gar nichts von dem Unglück
mitbekommen.
Weit gefehlt. Man hatte Katastrophenalarm ausgerufen, die Feuerwehr benachrichtigt,
eine Notlandung vorbereitet. Die dann nicht stattfand.
Bengt Lagerrud, der Verantwortliche auf dem Flugplatz, war ein Mann jenseits
der mittleren Jahre, der diesen Übergang drahtig und mit eingezogenem Bauch
bewältigt hatte. Er trug Jeans und ein kariertes Hemd; kurzum, er hatte
beschlossen, jung zu bleiben, und es war leicht zu erraten, daß seine
Lieblingsbeschäftigung nicht Fernsehen war. Jetzt war er im Begriff, mit
seinem Jeep zu dem verunglückten Flugzeug zu fahren. Ohne Umschweife bot
er Kristina an, mitzukommen, denn er hatte sie sofort wiedererkannt.
In Huddinge war sie binnen kurzem eine Person des öffentlichen Lebens
geworden, nachdem sie einen Mordfall in Stockholms gehobenen Kreisen aufgeklärt
hatte. Ihr Porträt war in den Abendzeitungen erschienen, man nannte
sie »die philosophische Polizistin«, wegen ihres Philosophiestudiums
in früheren Zeiten. Dem Lokalblatt war das noch nicht genug, dort
wurde sie erhöht zur »Philosophin, die über Huddinge wacht«.
Sogar im Fernsehen war sie aufgetreten, um mit Fachleuten, Tätern
und ganz gewöhnlichen Idioten über Kriminalität zu debattieren.
Kristina stellte ein paar Fragen, und Lagerrud konnte sie alle beantworten.
Das Flugzeug war zum Flughafen Bromma unterwegs gewesen, aber dann hatte der
Pilot um Erlaubnis gebeten, die Landebahn des Fliegerclubs benutzen zu dürfen.
Er hatte keinen Treibstoff mehr, die Moto-
ren setzten aus. Natürlich bekam er die Genehmigung, und unter normalen
Umständen hätte es überhaupt keine Probleme gegeben. Man kann
sehr gut ohne Motorkraft landen, Piloten sind für solche Situationen ausgebildet.
Doch das Flugzeug hatte die Landebahn gar nicht erreicht. »Kann sein,
daß der See schuld war. Über Seen und Talsenken gibt es immer wieder
tückische Luftströmungen.«
Wieso war der Treibstoff ausgegangen? Was das betraf, so hatte Lagerrud zwei
Theorien. Nach der ersten waren kräftige Gegenwinde aufgekommen, die den
Treibstoffverbrauch stärker ansteigen ließen, als der Pilot einkalkuliert
hatte. Das war nichts Ungewöhnliches. Nach der zweiten hatte sich Eis in
den Vergasern gebildet.
Eis? An einem so warmen Sommertag?
Lagerrud erklärte gedudig, daß man mit Eisbildung jederzeit
rechnen müsse. Wenn man die Landung vorbereitet, schaltet man den
Motor auf Leerlauf. Dann genügt es, eine feuchte Wolke zu durchqueren,
und schon frieren die Vergaser zu. Deshalb hat man ein System zur Lufterwärmung
installiert. Vielleicht hatte der Pilot vergessen, dieses System zu betätigen,
oder es hatte nicht funktioniert.
»Das heißt also, wenn es nicht das eine war, dann war es das andere«,
faßte Kristina zusammen, gegen ihren Willen mit einer Spur Ironie. Aber
Lagerrud ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
Mehr konnte er nicht sagen. Er wußte nicht, wer an Bord der Maschine gewesen
war, zu welcher Fluggesellschaft sie gehörte, von wo aus sie gestartet
war. Zum Plaudern habe der Pilot keine Zeit gehabt, bemerkte er, nun seinerseits
mit einer Prise Sarkasmus. Er war schließlich nicht umsonst Fluglehrer.
Sie sah so beleidigt aus, daß er ein schlechtes Gewissen bekam. Für
den Rest der Fahrt unterhielt er sie mit Geschichten aus der Gegend, die er
wie seine Westentasche kannte. Er stammte von Norrgakvarnen, einem der ältesten
Höfe der Umgebung, wo seine Mutter vor sechzig Jahren als Magd gedient
hatte.
Die Siedlungsspuren auf Norrgakvarnen ließen sich bis in die Wikingerzeit
zurückverfolgen. In diesem Teil Südschwedens hatten schon vor sechstausend
Jahren Menschen gelebt, es gab dort viele unerforschte Gräber, und Schluchten
gab es, in denen man sich vorkam wie in einem Tropenland. Es ärgerte ihn,
daß die Leute so wenig wußten, immer hatte ihn das geärgert.
Kristina fand, daß er Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, und sie
hätte ihn gern umarmt. Feuerköpfe haben stets etwas Rührendes.
Sie ließ es bleiben, um Komplikationen zu vermeiden.
Buchtipp |
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Als sie ankamen, war sonst noch niemand da. Die Stelle war nicht leicht
zugänglich, am einfachsten war sie per Boot zu erreichen.
Kristina schimpfte über die verspätete Ankunft der Feuerwehr, aber
Lagerrud gab zu bedenken, daß sie mit ihren Fahrzeugen gar nicht bis dorthin
vordringen könne. Außerdem würden keine Feuerwehrleute gebraucht,
sondern Taucher. »Unterwasserbrände«, fügte er spöttisch
hinzu, »sind eher selten.«
Am Unglücksort herrschte vollkommene Stille, als sei nichts geschehen.
Kristina wurde von einem Schwindelgefühl erfaßt. Wenn das Ganze
nun bloß Einbildung war?
Zuweilen überfiel sie diese Unruhe, die Befürchtung, eine Realität
wahrzunehmen, die gar nicht existierte. Es war, als ob ihr Gehirn ihr eine Falle
stellte.
Die glatte Oberfläche des Wassers wurde von einer leichten Brise
sanft gekräuselt.
Wer lag dort unten? Nur der Pilot, oder waren Passagiere dabei? Sie mußte
es herausfinden, das war ihre Aufgabe.
Vorerst konnte sie nur warten.
Danke an den Zsolnay Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |